Ankunft in Südamerika

Die Passagiere der „Espana“ waren nicht wenig froh, seitdem sie wussten, dass morgen der Ankunftstag in Buenos Aires sei. Heute Nachmittag hatten wir den Hafen von Montevideo verlassen, und morgen ist die große Fahrt über den Atlantik beendet. Heute ist der vorletzte Tag auf dem Schiff!

Das Deck, auf dem die Liegestühle der Passagiere standen, schwebte noch immer in dem geheimnisvollen Schweigen, das gar nicht geheimnisvoll war. Es war nur eine ganz besondere Ruhe, die jedem wohltat.

Jeder hatte mit seinen eigenen Gedanken zu tun. Vielleicht dachten sie alle noch einmal an die weit entfernte Heimat, der sie nun den Rücken gekehrt, um hier in Südamerika eine neue, vielleicht bessere Heimat zu gründen. Wer konnte wissen, was für Schicksale die Menschen trugen, die die ganzen Wochen unter uns waren.

Vielleicht waren nicht alle so glücklich, wie sie aussahen, oder sich den Anschein gaben. Man kann nicht in die Herzen der Menschen hineinschauen, um ihre Gedanken zu erraten. Aber viele waren bestimmt dabei, die an die deutsche Heimat dachten. Die vielleicht noch einmal die Gründe in Erwägung zogen, warum sie den Weg in den neuen Erdteil begonnen hatten.

Es waren viele unter ihnen, denen der Ernst, die Lebenskraft und Entschlossenheit ins Gesicht geschrieben standen, deren sie als Siedler brauchen. Aber da waren auch andere, die herübergekommen waren, um Geld zu verdienen. Recht viel Geld, und möglichst recht schnell. Solche musste es natürlich auch geben, gab es sie doch überall. Warum nicht auch in Südamerika?

Deutsche waren alle, die da an Deck lagen, und in die Nacht hinaus träumten. Und diejenigen, die hinüber fuhren, um ihr Glück in der Arbeit zu finden, die wussten, was ihrer erwartete. Harte Arbeit und viel Kampf. Auch Kampf mit sich selbst. Sie durften dann nicht mehr an Vergangenes denken, sondern den Blick für das Kommende frei halten.

Morgen werden sie nun den Boden ihrer neuen Heimat betreten; morgen ist der Tag der Ankunft in Buenos Aires!

Aus dem großen Aufenthaltsraum im Mittelschiff drang leise, als käme es von weit her, Gitarrenmusik herauf. Kastagnetten klapperten und Spanier sangen eine schöne melancholische Weise.

Es klang wunderbar!

Es war überhaupt eine selten schöne Nacht, und eine Ruhe wie in der Kirche. Man hörte die Uhren ticken, und heimlich rauschte das Meer.

Nach und nach wurde das Deck leer. Die Fahrgäste suchten ihre Kabinen auf, um sich zur Ruhe zu legen. Zum letzten Male auf der „Espana“. Auch ich legte mich in die Koje, denn der nächste Tag würde sicher ziemlich anstrengend werden.

Als ich in den weichen Federn lag, überdachte ich noch einmal das Gewesene, und versuchte zu ergründen, was die Zukunft für mich bringen würde, wie das Leben weitergeht.

Aber da gab es nicht viel zu überlegen. Ich war ja so jung und unerfahren, nein – dumm! Was braucht sich ein elfjähriger Junge viel um die Zukunft seines Lebens zu kümmern? Er versteht noch nichts vom Schicksal. Was kümmert es ihn, was morgen ist? Er bestaunt nur das Fremde. Er freut sich über das, was er sieht, was er lernt, und meistens vergisst er es auch recht schnell wieder.

Aber ich habe es nicht vergessen, und ich werde es auch niemals vergessen können. Wenn auch heute alles schon viele Jahre hinter mir liegt, so sehe ich mein ganzes Erleben doch noch so deutlich vor mir, wie ich es damals mitgemacht habe, so wie es war! –

Der nächste Morgen fand mich wieder frisch und ausgeschlafen. Meine Seekrankheit war etwas gewichen, und beim Frühstück konnte ich sogar wieder richtig zugreifen. Ich hatte Appetit und einen Mordshunger. Man konnte sich den Magen so wunderbar füllen, auf der „Espana“. Da gab es zum Beispiel Eier, wie man sie haben wollte, Haferschleimsuppe, Honig, Butter, Wurst; kurz alles, was das Herz begehrte. Auch die Getränke waren in reicher Auswahl vor mir aufgestellt. Tee, Kaffee und Schokolade.

Ich trank natürlich meistens Schokolade. Überhaupt fand alles, was süß war, meinen besonderen Beifall. Das soll bei Kindern immer so sein, aber es stimmt nicht. Mein Bruder liebte saure Gurken vielmehr als Würfelzucker, was ich allerdings nicht verstehen konnte.

Die Sonne stand schon am frühen Morgen sehr hoch, sodass mit einem schönen Tag zu rechnen war. Aber trotz des sonnigen Wetters, und trotz des guten Hungers war ich nicht so richtig froh. Heute ist doch der Tag, der mich von meiner Geliebten trennen sollte. Und das war mir absolut nicht einerlei! Ich machte ein ernstes Gesicht, damit man mir meinen Kummer auch ansehen konnte, und schlich wie ein geprügelter Hund auf dem Schiff umher. Edith sah natürlich sofort, dass da irgendetwas nicht stimmte. Sie tröstete mich auch, so gut sie konnte, aber warum ich so traurig war, konnte ich auch ihr nicht anvertrauen, so war ich vom Schmerz zermürbt! Im Stillen dachte sie natürlich auch an die bevorstehende Trennung, und dass sie darüber ebenso traurig war, wie ich, davon war ich felsenfest überzeugt.

Müsste ich nicht eigentlich Angst haben, dachte ich, dass sie sich vor Herzeleid in den Rio de la Plata stürzte? Aber Gott sei Dank, sie tat es nicht. Schließlich war sie auch ein ganzer Kerl, ein richtiger Mann, sozusagen, der sich nicht wegen jeder Kleinigkeit das kostbare Leben nimmt.

Edith strich mir sanft durch die wirren schwarzen Haare, und verlangte ein freundliches Gesicht von mir. Ich konnte ihr nun einmal nichts abschlagen, und so war ich im Handumdrehen wieder mopsfidel, was meinem „Liebchen“ außerordentlich sympathisch zu sein schien.

Oben an Deck machten wir es uns dann so gemütlich wie möglich, und schauten in die Ferne, um als erste das „nahende“ Land zu sichten. Günther, der uns beide in der letzten Zeit überhaupt nicht mehr aus den Augen gelassen hatte, war natürlich auch wieder dabei, sodass ich nicht in der Lage war, der Edith meine innersten Gedanken und Gefühle zu offenbaren. Wir mussten uns also über ganz unwichtige, und harmlose Angelegenheiten unterhalten. Trotzdem glaubte ich der Edith anzusehen, dass sie viel lieber mit mir über Ehefragen gesprochen hätte. Aber das war nun einmal nicht zu ändern.

Gegen Mittag war dann ganz in der Ferne ein dunkler Strich zu erkennen. Das war Land! Darüber waren wir drei uns einmal ausnahmsweise einig, was sonst bestimmt sehr selten vorkam. Richtige Jungens müssen sich eben auch manchmal ein wenig streiten, oder noch besser – verprügeln! In Gegenwart des zarten Geschlechts musste selbstverständlich die größte Eintracht herrschen. Und so war es auch bei uns. Wir waren doch richtige Kavaliere!

Dann war die Küste schon so nahe gerückt, dass man Einzelheiten erkennen konnte. Große und kleine Dampfer schoben sich an uns vorbei, und kamen manchmal so nahe, dass wir die Leute darauf erkennen konnten. Günther und ich schätzten dann „fachmännisch“ die Entfernungen der Schiffe von der „Espana“, und Edith machte den Schiedsrichter. Wer die schöneren Augen machen konnte, der hatte gewonnen.

Dann ließen sich schon verschiedene Buchten erkennen, und wir spielten das berühmte Spiel: „Ich sehe was, was Du nicht siehst…!“ Da wurde natürlich immer großer Schwindel gemacht, aber das war ja wohl die Hauptsache bei diesem Spiel. Jedenfalls ging es ganz gut.

Als wir – das heißt unser Kasten – dem Hafen immer näher kamen, und wir drei alles aufmerksam beobachteten, was um uns vorging, mussten wir – will sagen unser Schiff – einmal auf offener See halten, um den Lotsen an Bord zu nehmen.

Die Passagiere befanden sich zumeist in ihren Kabinen, wo sie mit dem Packen der Koffer beschäftigt waren. Auch mein Vater erledigte gerade diese Arbeit, bei der ich Gott sei Dank nicht mitzuwirken brauchte. Ich hatte meinen Kopf zu voll, als dass ich mich auch noch mit einer solchen Arbeit hätte abgeben können. Mein Abschiedsschmerz war direkt überwältigend. Das kam mir immer mehr zum Bewusstsein, je näher unser Schiff dem Hafen von Buenos Aires zulief.


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