Familiäre Zusammenhänge

Wir waren Auswanderer. Mein Vater, mein Bruder Günther, meine Stiefmutter und die zwei Stiefbrüder. Vater hatte sich von meiner Mutter vor einigen Jahren scheiden lassen, und sich bald wieder verheiratet. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er Günther und mich zu sich genommen, und auch in seiner zweiten Ehe hatten zwei Kinder das Licht der Welt erblickt.

Alle waren sie hell begeistert, dass sie nach Amerika kamen. Auch für Günther war es vielleicht die Erfüllung seiner Träume. Er versprach sich allerhand Abenteuer dabei, hoffte auf noch nie dagewesene Heldentaten, die er zu vollbringen gedachte.

Vater hatte schon einige Zeit vor der Abreise Unterricht in Spanisch genommen, und da er schon früher einmal in Brasilien gewesen war, fand er sich in alles schnell zurecht. Spanisch und Portugiesisch beherrschte er fast vollkommen, und er wusste, dass er auch das Klima vertragen würde. Somit waren also alle Voraussetzungen für einen Aufenthalt in den Tropen vorhanden.

Ich hatte das wenigste Interesse an dieser Amerikafahrt. Am Liebsten wäre ich in Deutschland bei meiner Mutter geblieben, von der ich nicht einmal hatte Abschied nehmen können. Vater wollte es nicht, das Abschiednehmen. Ich konnte nichts dagegen tun, absolut nichts.

Vielleicht war es besser so, es hätte viele Tränen gekostet. Schmerzhafte Tränen.

Aber sind sie denn so erspart geblieben? Wohl kaum. Ich habe sie nur nicht sehen können, aber die Tränen sind doch geflossen. Viele Tränen. –

So weit war ich von meiner Mutter fort, ohne dass sie wusste, wo ich war, ob ich überhaupt noch lebte.

Sie wird viel Sehnsucht haben, dachte ich, sie wird sich um dich sorgen, und ihre Gedanken werden dich suchen; überall in der Welt. Immer wird sie an dich denken müssen, mit einer schmerzlichen Erinnerung und mit blutendem Herzen, mit sehnsuchtsvoller Hoffnung und festem Glauben.

Ja, so wird sie an mich denken, und so hat sie auch an mich gedacht. So kann nur eine Mutter denken, wenn ihr Kind verschleppt worden ist. Verschleppt in einen anderen Erdteil, in eine andere Welt.

Wenn sie wenigstens wissen würde, wohin wir gefahren sind.

Es gab ja eine Post, sogar eine Luftpost, und ich nahm mir fest vor, auch davon Gebrauch zu machen, sobald ich Gelegenheit haben würde.

Vielleicht hätte ich mir damals solche Gedanken nicht machen sollen. Das Leben musste auch so weitergehen. Man darf nicht traurig sein, oder gar daran zerbrechen. Das Leben geht immer weiter, unaufhaltsam rinnen die Stunden! Und man muss an das Leben denken, und die Augen offen halten. Sehen. hören, lernen! So muss die Parole lauten, wenn man durchhalten will, vielmehr: muss!


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