Letzte Stunden auf der „Espana“

Das Mittagessen ging an diesem Tag besonders schnell vorüber. Niemand hatte die richtige Ruhe in sich, die ja eigentlich zu einem richtigen Mittagessen unbedingt gehört. Früher waren ja die Gäste auch manchmal während dem Dinner ganz schnell aufgestanden, aber da hatte das immer einen ganz bestimmten Grund. Warum heute auch alle so schnell satt waren, konnte ich mir absolut nicht erklären. Schließlich konnte mir das ja auch egal sein. Ich war jedenfalls diesmal der Letzte, der von der Tafel aufstand. Mein Vater sagte zwar, so etwas würde sich nicht schicken, aber es kann doch egal sein, wer zuletzt aufsteht, einer musste es ja doch sein. Und heute war ich es eben.

Es ist immerhin ein sehr hochtragendes Gefühl, wenn man so als Letzter noch dasitzt, während die anderen schon den Bauch voll hatten. Man sollte immer schön langsam essen, dann kam sicher jeder einmal an die Reihe, der Letzte zu sein.

Bald hatte ich die letzten Bissen verschlungen, da erhielt ich Besuch. Edith – Verzeihung, meine Edith – war es. Anscheinend hatte sie mir etwas Wichtiges mitzuteilen. Sie ließ sich an meiner grünen Seite nieder, und sagte mit tränenerstickter Stimme: „Ich habe hier etwas für dich. Es ist ein Andenken und du musst es gut aufheben!“

Das versprach ich natürlich bereitwilligst und dann erhielt ich das „Andenken“ ausgehändigt.

Ein richtiges Andenken war es ja eigentlich nicht, sondern nur ein solches Stück Papier, wie wir das immer für unsere Schornsteinfeger verwendet hatten. Und darauf war dann fein säuberlich das Verschen geschrieben:

Rosen, Tulpen, Nelken,
alle Blumen welken,
Aber uns‘re Freundschaft nicht!
Lebe wohl, vergiss mein nicht!

Mit seltsam verschnörkelten Buchstaben war dann noch als Unterschrift hingeschrieben: Deine Edith!

Also diesen Zettel sollte ich mir nun mein ganzes Leben lang aufheben, aber so lange hatte ich ihn nicht. Es war vielleicht auch gar nicht so nötig, dass ich den Vers noch zu meinem achtzigsten Geburtstag lesen konnte. Wenn ich mir nur die Worte gut merken wollte, dann konnte man schon zufrieden sein. Ich war sehr glücklich über diese Auszeichnung, die ich meinem Bruder immerhin voraus hatte, und er war nicht wenig böse, als er merkte, dass er der verschmähte Liebhaber war. In mir rauschte ein unbändiges Glücksgefühl! Ich war der Sieger!

Inzwischen hatte sich die „Espana“ schon so nahe an die Docks und Hafenanlagen herangeschoben, dass sie von ein paar kleinen Schleppern ins Tau genommen werden konnte. Die Maschinen arbeiteten nun langsamer. Motorboote mit winkenden „Uhus“ kamen längsseits des Schiffes heran geschaukelt, andere zogen ganze Lastkähne voll Apfelsinen und Bananen an uns vorüber. Neugierige Menschen aller Farben winkten uns von weitem zu.

Eine fühlbare Unruhe verbreitete sich unter den Fahrgästen. Jeder wurde ein bisschen angesteckt, ob er sich dazu hergab oder nicht.

Es war wie in einem D-Zug, der in wenigen Minuten sein Ziel erreicht hat, und die Fahrgäste sich von ihren Plätzen erhoben, um die Mäntel anzuziehen und das Gepäck zusammen zu nehmen.

Der Wirrwarr wurde immer schlimmer. Jeder hatte mit sich selbst zu tun, und niemand wollte sich um die Kinder kümmern. Wir mussten also sehen, wie wir mit uns selbst fertig wurden. Edith durfte nicht mehr von ihren Eltern fort, und so musste ich mich mit meinem Bruder allein unterhalten. Wir standen am Bug des Schiffes und beobachteten das interessante Leben und Treiben dieser südländischen Hafenstadt, die wir schon ganz gut erkennen konnten.

Wo man hinblickte: Arbeit! Chinesen liefen geschäftig auf und ab, Schwarze trugen im Schweiße ihres Angesichts schwere Ballen auf die verankerten Schiffe.

Gegen vier Uhr nachmittags rasselten die schweren Ankerketten unseres Schiffes in die Tiefe. Winden zogen es dann nach und nach in die richtige Lage am Kai. Viele Passagiere waren hier am Ziel ihrer Reise, andere mussten weiter ins Innere vordringen. Nach Süden, Norden oder Westen.

Dann wurde ein langer, breiter Holzsteg an Deck gezogen, auf dem bald darauf die ersten Fahrgäste, die es am eiligsten hatten, das Schiff verließen.

Da, wo sich die argentinischen Hafenpolizisten, mit ihren blauen Pumphosen und weißen Gamaschen, aufgestellt hatten, befand sich auch ein langer Tisch, an dem Passkontrolleure saßen. Jeder, der das Schiff verlassen wollte, musste dort vorbei. Ich stellte mich in der Nähe auf, um jeden Einzelnen genau sehen zu können.

Manchmal winkte mir ein alter Bekannter einen freundlichen Abschiedsgruß zu, aber darauf achtete ich nicht besonders. Ich hielt nämlich Ausschau nach meiner kleinen Freundin, die ja auch jeden Augenblick kommen musste. In der Zwischenzeit überlegte ich mir, was sie wohl heute für ein Kleid anhaben würde. Ob das schwarze mit den weißen Punkten, oder jenes neue Grasgrüne?

Und dann war sie auf einmal da, das heißt, bis ich richtig hingeschaut hatte war sie schon wieder weg. Gerade im richtigen Augenblick hatte ich nicht aufgepasst. Nicht einmal zuwinken konnte ich ihr, oder einen Trost zurufen oder dergleichen. Vielleicht hatte sie mich gar nicht einmal gesehen in dem Trubel, der jetzt gerade an der großen Holzbrücke herrschte.

Dann drehte sie sich noch einmal um, aber im selben Moment schob sich der dicke spanische Maler Antonio Lopez vor mein Gesichtsfeld.

Und ich wollte Edith doch noch etwas fragen. Etwas sehr wichtiges!

Ihre Adresse von Buenos Aires, da wohnte sie nämlich, wollte ich unbedingt wissen, um ihr einmal schreiben zu können. Und nun war sie fort! Ganz fort!

Mit dieser Erkenntnis wurde mir die ganze Tragik meiner unglücklichen Liebe klar. Mit dieser Erkenntnis hatte ich meine erste große und reine Liebe begraben.

Edith war mir das Symbol der Weiblichkeit. Sie hat mein Sinnen und Trachten beherrscht, und ich habe sie mit der ganzen Wucht meiner elf Jahre geliebt.

Meine Edith! –

Nun war sie, wie gesagt, fort, und hatte mich mit jenem Stück Toilettenpapier, welches das Geheimnis ihrer Lebensweisheit enthielt, allein gelassen.

Dann stand ich noch lange auf derselben Stelle, und las immer wieder den Zettel, der in meiner Hand ganz feucht geworden war, und immer unansehnlicher wurde. Ich hoffte, sie würde noch einmal zurückkommen, aber sie tat es nicht, und ich lebe heute noch! –

Unsere Familie wollte noch eine Nacht an Bord der „Espana“ bleiben, weil wir erst am nächsten Tag Verbindung mit dem Flussdampfer hatten. Nach dem Abendessen, das um sechs Uhr serviert wurde, und sehr wenig besucht war, machten wir einen kleinen Bummel durch Buenos Aires.


Weiter >>