Reger Briefwechsel mit meiner Mutter

Erleichtert atmete ich auf, als ich im Zug saß und zur Abfahrt gepfiffen wurde. Es schien meinem Vater doch nicht so ganz egal gewesen zu sein, dass ich nur noch wie ein Fremder zu ihm kam, und sonst nichts von ihm wissen wollte. Aber ich fühlte mich nun einmal in der Fremde wohler als unter väterlichem Kommando. Die Freiheit ging mir über alles, und nichts hätte mich dort halten können, wo es mir nicht gefiel.

Seitdem ich von Luque fortgegangen war, und bei der Familie Sanches B. als Kindermädchen fungiert hatte, hatte ein reger Briefwechsel mit meiner Mutter begonnen. Ich machte sie mit meiner Umgebung und mit meinen Arbeitgebern bekannt, und erzählte ihr alle meine Freuden und Sorgen. Ich schilderte ihr meine Sehnsucht nach der Heimat, und alles, was ich erlebte und lernte. Bedrückte mich ein Leid, so trösteten mich ihre Briefe immer wieder. Oft gab sie mir auch gute Ratschläge und tadelte auch manchmal, wenn ich ihre Fragen nicht wunschgemäß beantwortete.

Ich fühlte und las aus ihren Briefen, dass sie große Sehnsucht nach mir hatte, und sie schrieb immer lange Seiten, an denen man sich nicht satt lesen konnte. Sie schüttete mir ihr Herz aus, denn sie wusste, dass ich sie verstand. Immer mehr begeisterte ich mich dafür, wieder in die Heimat zurückzukehren, und immer wieder stieg die Frage in mir auf, woher ich das Geld nehmen sollte.

Manchmal überlegte ich, ob es nicht eine andere Möglichkeit gab, hinüber zu kommen, aber alles erschien aussichtslos. Als Schiffsjunge konnte ich nicht ankommen, da war ich noch zu jung. Was waren denn dreizehn Jahre für ein Alter? Da gehörte ich eigentlich noch auf die Schulbank. Aber die hatte ich schon lange vergessen. In Paraguay bestand keine Schulpflicht, wie bei uns in Europa. Ich hatte auch gar keine Zeit für derartigen Luxus, denn ich musste mir mein Brot selbst verdienen. Und dass ich das konnte, hatte ich schon mehr als genug bewiesen.

Meine Mutter versuchte mir nun, das Leben so leicht wie möglich zu machen. Ab und zu schickte sie mir Geld und Antwortscheine, damit ich nichts für Porto auszugeben brauchte.

Meistens schrieb sie nur Luftpostbriefe, damit ich sie auch recht schnell erhalten sollte. Alle Hebel setzte sie in Bewegung, um auch von amtlicher Seite über mein Befinden und meine Tätigkeit zu erfahren. Ständig suchte sie neue Wege, die sie mir näherbrachten. So kam sie auch mit dem deutschen Volksbund in Verbindung, der viel zur Erleichterung unserer Lage beigetragen hat.

Mein Verlangen, wieder in die Heimat zu kommen wurde immer größer, aber ich wusste nicht, wie ich es anfangen sollte. Für mich gab es nur eins:

Arbeiten und warten!

Don Felix Genes war ein guter Erzähler, und ich lauschte gern seinen Geschichten, die uns die langen Abende ausfüllten. Wir saßen zusammen in der eleganten Wellblechbude und die Nacht senkte sich auf die Stadt. Der Tischler hatte es sich bequem gemacht, und stieß behaglich den Rauch seiner Zigarre von sich, während ich angestrengt ins Dunkle schaute.

Draußen wurde es langsam kühl, und mein kleiner Affe, den mir mein Chef vor einiger Zeit zum Geburtstag geschenkt hatte, war völlig in die Decke gerollt, die ich ihm zum Schutze gegen die nächtliche Kälte gegeben hatte. Dieser kleine Schreiaffe war ein Monstrum für sich. Immer musste ich auf der Hut sein, dass er mir nicht ausriss, denn er fühlte sich begreiflicher Weise in der Freiheit wohler, als in der Gefangenschaft, obwohl es ihm bei mir an nichts fehlte. Jeden Morgen bekam er seine Erdnüsse und sooft ich Zeit dazu hatte, spielte ich auch ein bisschen mit ihm, damit es ihm nicht gar so langweilig war.

Er hatte sich schon ein paar Mal losgerissen, und unseren ganzen Kerzenvorrat in der Bude aufgefressen. Ein anderes Mal war er in einen Baum gestiegen, und es kostete mich alle Mühe, ihn wieder zum Herabsteigen zu bewegen. Ein Mal hat er mich auch gebissen, aber dafür bekam er ordentlich Schläge.

Ich konnte es nicht fertig bringen, ihn in einen Käfig einzusperren. Er bekam einfach einen Lederriemen um den Bauch, der mit einer Kette am Baum befestigt war. Da konnte er nach Herzenslust herum turnen, ohne dass er jedoch frei war. Mein Monito hatte mich sehr ins Herz geschlossen, und im Übrigen sah er Herrn Genes fast brüderlich ähnlich, was ich ihm aber nicht sonderlich übel nahm.

Jetzt lag er jedenfalls ruhig in seine Decke gewickelt, und blinzelte nur aus einem schmalen Spalt zu uns herüber. Aber er konnte nichts sehen, denn es war fast völlig dunkel.

Herr Genes überlegte gerade, was er mir heute für eine Gruselgeschichte erzählen sollte. Nach seiner Meinung würde ich alles glauben, was ich da aufgetischt bekam. Doch ich war von Anfang an überzeugt, dass das alles nur Gebilde einer Phantasie sein konnten.

„Stell dir vor,“ begann er, „ich liege ganz ruhig im Bett, plötzlich höre ich ein Geräusch, als kratze ein Hund an meiner Tür. Nanu, denke ich, ich habe doch gar keinen Hund, wie kann da hier ein Hund kratzen und scharren? In meiner Angst bringe ich nicht den Mund auf. Auch aufstehen kann ich nicht. Wie versteinert liege ich in meinem Bett, und bin unfähig, mich zu rühren. Doch da – blitzschnell ging die Tür auf, aber nur einen ganz kleinen Spalt. Draußen stand die runde Mondscheibe am Himmel und leuchtete dämonisch durch mein kleines Fenster. Es schien mir, als wollte mir der dicke Kopf da oben zurufen:

Warum zitterst du denn so, warum hast du solche Angst? Ha ha ha ha!“

Der Meister von der Erinnerung ganz ergriffen zu sein, denn die Schweißtropfen standen ihm in dicken Perlen auf der Stirn. Sicher erlebte er die ganze Romantik jener Nacht noch einmal. Er war von der Wahrheit seiner Erzählung genauso überzeugt, wie ich als Kind von den Märchen überzeugt war, die mir die Großmutter erzählt hatte, wenn wir in der Dämmerstunde am Fenster saßen.

Mit einer müden Bewegung wischte sich Don Felix den Schweiß von der Stirn und fuhr fort:

„Immer wieder schielte ich abwechselnd nach der offenstehenden Tür und dem erleuchteten Fenster. Ich war dermaßen aufgeregt, dass ich, trotz größter Anstrengung in dem immerhin hellen Raum absolut nichts erkennen konnte. Vorsichtig tastete ich nach meinem Hausschuh, um im Notfalle wenigstens eine Waffe in der Hand zu haben. Aber ich brauchte diese Waffe nicht, denn ich bekam weder ein Gespenst zu sehen, noch den Teufel.

Doch kaum hatte ich den Pantoffel in der Hand, als etwas Grässliches geschah, was einem kultiviert erzogenen Menschen schon für einige Tage die Besinnung rauben konnte. Doch du musst wissen, Wenardo, ich verfüge über eine ungeheure Geistesgegenwart, und so kam ich noch einmal mit dem Schreck davon.

Also wie gesagt hatte ich gerade meinen Schuh in der Hand und mich in meiner Matte wieder zurechtgelegt, als plötzlich draußen ein Fauchen und Heulen zu hören war. Ich nahm an, alle bösen Geister wollten über mich kommen, und bat in aller Eile und Angst die „Santa Maria“ um Gnade für meine, in der letzten Woche begangenen Sünden. Aber sie schien es bei dem Krach, der draußen herrschte, nicht gehört zu haben, denn plötzlich wurde das Fenster aufgerissen, und im gleichen Augenblick schlug einer der Geister von außen die Türe zu, dass mir sämtliche Zähne wackelten.“

Er hatte eine wunderbare Art, zu erzählen und seine Geschichten waren so spannend, dass ich langsam anfing, selbst daran zu glauben. Oft lag ich die halbe Nacht wach auf meiner Pritsche, ganz in den gehörten Unsinn versunken und darüber nachdenkend. Es kam sogar so weit, dass ich bei jedem nächtlichem Geräusch aufhorchte und sofort an die Geister dachte, die mir Don Felix Genes so eindrucksvoll geschildert hatte. Aber es ereignete sich nie etwas Ungewöhnliches. Das war wahrscheinlich darauf zurück zu führen, dass der Meister jeden Abend vor dem Schlafengehen auch mich in seine frommen Gebete mit einschloss.

Einige Monate war ich nun schon bei dem Tischler in Stellung, und war mit ihm und meiner Arbeit sehr zufrieden. Fast jeden Sonntag besuchte ich meinen Bruder auf der Estanzia Consalez und brachte ihm Briefe mit, die ich von meiner Mutter aus Deutschland erhalten hatte, und die mir immer wieder Kraft und neuen Mut gaben, die mich immer wieder anspornten, neue Wege zu suchen und zu finden, die mich ihr näher brachten. Aber es war für mich alles so schwer und fast unmöglich, denn ich war noch zu jung, um mich überall energisch genug durchsetzen zu können. Ich konnte nur hoffen und warten.

Meinem Bruder schien es ziemlich gleichgültig zu sein, ob er in Deutschland war oder in Amerika. Er fühlte sich dort wohl, wo er sich um nichts zu kümmern brauchte, und doch sein gutes Essen hatte. Und das war auf der Estanzia der Fall. Aber es lag mir daran, auch ihn für meine Idee mit zu begeistern und ihn von seiner trägen Bequemlichkeit abzubringen. Oft legte ich ihm klar, dass es doch besser wäre, wenn er mit mir in die Stadt käme, um eine ordentliche Stelle zu suchen, bei der er auch etwas verdienen könnte, und nicht nur das tägliche Essen erhalten würde. Ich sagte ihm auch, dass er daran denken müsse, sich in irgendeinem Beruf auszubilden, um nicht einmal, wenn er älter sei, ohne alle Kenntnisse dazustehen, und nicht zuletzt, dass ich annehme, auch er möchte einmal nach Deutschland zurück. Aber für all das hatte er wenig Verständnis, obwohl ich ihm alles so deutlich wie möglich vor Augen hielt. Mein Angebot, ihn in Asuncion in einer Lehrstelle unterzubringen, wiederholte ich jedes Mal, wenn ich ihn besuchte, und es gelang mir schließlich auch, ihn zum Verlassen seines Arbeitsplatzes zu bewegen.

So geschah es, dass er eines Tages im Hause meines Chefs eintrudelte, und erklärte, dass er nun für immer in der Stadt bleiben wolle. Die erste Nacht in Asuncion blieb er bei uns und ich richtete ihm in dem weißen unmöblierten Steinpalast ein Nachtlager her, das allem Komfort, eines zivilisierten Menschen würdig, entsprach.

Am nächsten Morgen machten wir uns auf die Socken, denn Günther sollte sich in einer Schusterei vorstellen.

Zuerst habe ich die Absicht gehabt, meinen Bruder bei einem, mir aus der Zeit des Herrn Alfonso bekannten Friseur unterzubringen. Aber ich änderte mein Programm doch wieder.

Einige Tage vor Eintreffen meines Bruders, hatte ich dem Schuhmacher, der mir zu meiner ersten Stelle verholfen hatte, einen Besuch abgestattet und ihm erzählt, dass nun auch Günther in die Stadt kommen würde. Natürlich wusste der gute Mann auch hier wieder Rat, und er vertrat die Meinung, dass es das Beste sei, wenn mein Bruder in die „Sapateria Paris“, so nannte sich stolz das Schuhgeschäft seines Neffen, in Stellung geben würde.

„Dort kann ich für eine gute Behandlung und Bezahlung garantieren,“ sagte er, „und außerdem bleiben wir beide als alte Bekannte immer in Kontakt.“ –

Ich wusste, dass das gut gemeint war, und willigte ein, ohne erst meinen Bruder vorher gefragt zu haben.

Nun war Günther in der Stadt, und es kam die Stunde, wo er sich in der „Sapateria Paris“ vorstellen sollte. Der Name des Schuhgeschäftsbesitzers ist mir entfallen, aber jedenfalls war er ein Mann in den mittleren Jahren, die Haare schon etwas ergraut und im Übrigen schien er ein ganz angenehmer Mensch zu sein.

Er erklärte sich bereit, meinen Bruder aufzunehmen, wenn er die Probezeit von vier Wochen bestehen würde, in denen er alle möglichen und unmöglichen Arbeiten zu verrichten hätte. Wenn nun Günther auch nicht viel Lust oder besonders starkes Interesse an seiner neuen Tätigkeit zeigte, so bestand er doch die Prüfungszeit, nach seiner Meinung, sehr gut. Allerdings musste ich hier meine ganze Überredungskunst anwenden, dass er nicht einfach davonlief, was bei ihm jeden Tag zu erwarten war.

Ich muss nun hier erwähnen, dass es in Paraguay keinerlei Arbeitsgesetze und Arbeitsrechte, bzw. Arbeitsgerichte gibt, und dass jeder, der keine Lust zur Arbeit an den Tag legt, ohne Weiteres von seinem Arbeitgeber an die Luft gesetzt werden kann, und wem die Arbeit nicht gefällt, der kann auch ohne Weiteres seinen Arbeitsplatz verlassen.

Ich fürchtete nun immer, dass Günther nicht lange in seiner Stellung aushalten würde, und besuchte ihn deshalb recht oft. Ich spornte ihn an, es ja nicht mit seinem Chef zu verderben, da das ihm nur schaden konnte und uns in ein schlechtes Licht stellen würde, was ich aber um jeden Preis vermeiden wollte.


Weiter >>